Wenn ein Schriftsteller eine poetische Pause macht, geht er auch gern einmal
in den Stadtpark, um die Enten und die Schwäne zu beobachten und sich mit
den alten Herren zu unterhalten, die dort spazieren gehen oder angeln. Wenn
er sich in einer Schaffenskrise befindet, tut er das häufiger, denn der
Park verändert sich im Laufe der Jahre nur wenig und das beruhigt die unangenehmen
Gedanken des Schriftstellers etwas. Hier scheint die Zeit stehen geblieben zu
sein und man kann noch ungestört der Illusion nachhängen, man sei
jung, hoffnungsvoll und - was am wichtigsten ist - Empfänger einträglicher
Tantiemen. Hier schwimmen im Herbst abgestorbene Blätter auf dem Wasser,
tragen die Weidenbüsche im Frühjahr weiße Kätzchen und
im Winter, wenn die kahlen Bäume mit Schnee bedeckt sind und der See vereist
ist, ist es besonders still. Das ganze Jahr über werden die Enten und Schwäne
mit Brotstücken gefüttert; nur manchmal necken boshafte Kinder die
Tiere, indem sie ihnen stattdessen kleine Kieselsteine zuwerfen und sich köstlich
über deren vergebliche Bemühungen amüsieren, die vermeintlichen
Leckerbissen zu erhaschen.
Lediglich im Sommer ist der Schriftsteller manchmal leicht verwirrt, wenn bei
besonders heißem Wetter barbusige junge Mädchen in den Anlagen liegen
und Bücher lesen, vielleicht Dostojewski, Bukowski oder Freud - aber wer
weiß schon, was so junge Dinger lesen, wenn sie spärlich bekleidet
in Grünanlagen liegen und sich von der Sonne den Teint verderben lassen...
Der Schriftsteller hätte sich ja ganz gern einmal mit einer dieser jungen
Damen unterhalten - freilich nicht über Dostojewski - und er hätte
sicherlich auch eine von ihnen auf einen Drink zu sich eingeladen, um ihr seine
Ansichten über Ozonloch und Unschärferelationen zu erklären.
Aber er denkt dann immer an den schwach gesüßten Pfefferminztee seiner
ältlichen Schwester, welche ihm in dem Moment weder charmant noch irgendwie
reizvoll erscheint, und ist verzweifelt. Voll Ingrimm wünscht er sich dann
immer eine Schrotflinte, um unter dem Wassergeflügel ein Massaker anzurichten
und irgendwann einmal, möglicherweise an einem lauen Sommerabend nach blutroten
Sonnenuntergang oder an einem trüben Herbstmorgen, wird er vielleicht am
Ufer stehen und folgenden Monolog halten: "Ich bin wohl in einer Schaffenskrise
und es wird langsam Zeit, daß sich das ändert. Sicherlich könnte
ich den langweiligen Fortsetzungsroman weiter schreiben., an dem ich schon seit
Jahren sitze und ich bin überzeugt, daß sich das Geklapper der Schreibmaschine
gut anhören würde, denn in letzter Zeit hat sich meine Technik sehr
verbessert. Aber ich bin es leid, dieselbe miese Story an anderen Orten mit
anderen Personen ablaufen zu lassen, während mein unvollendeter Erstlingsroman
an einem Ort, den ich nicht kenne, verstaubt. Ich bin es leid, für dieses
Selbstplagiat so miserable Honorare zu beziehen, daß ich mir nicht mal
eine Haushälterin geschweige denn eine Geliebte leisten kann. Statt dessen
muß ich meine ältliche Schwester, die mir wahrscheinlich das Manuskript
zu meinem möglicherweise genialen Romanerstling verschlampt hat - am Ende
gar böswillig und mit Absicht - weiter in meinem Hause dulden, ihren ekelhaften
Pfefferminztee trinken und ihr sogar noch dafür dankbar sein. Kann man
so weiterleben? Nein, einmal muß Schluß sein!"
Danach wird er nach Hause eilen und sich über seinem Schreibtisch aufhängen.
Dabei wird der Strick reißen und der Schriftsteller wird auf seine Schreibmaschine
stürzen, welche daraufhin zu Bruch gehen wird. Der Schriftsteller wird
sich deshalb total lebensuntüchtig vorkommen. Nicht nur daß er seinen
Romanerstling nicht zu Ende geschrieben hat, nein nicht einmal ein simpler Selbstmord
gelingt ihm ! Wenn sich dann die Tür öffnet und eine weibliche Stimme
fragt, ob er noch einen Pfefferminztee möchte, wird er mit dämonischem
Lachen seine ältliche und in dem Moment furchtbar erschrockene Schwester
packen und erwürgen. Er wird dann hocherfreut feststellen, daß es
ihm gelungen ist, eine begonnene Handlung zu einem Ende zu führen und sich
überglücklich auf die Suche nach einem dieser Mädchen machen,
welche an heißen Sommertagen barbusig in Grünanlagen Dostojewski
zu lesen pflegen. Er wird Glück haben und ein solches Mädchen in einem
Nachtcafé, bei einem Rockkonzert oder einem Straßenkrawall kennen
lernen und es wird ihm sogar glücken, sie trotz seines angejahrten Charmes
und seiner altmodischen Redensarten aus der Zeit der 68er Studentenunruhen zu
sich einzuladen. Dort wird sie durch Zufall sowohl das verschollene Manuskript
des unvollendeten Romanerstlings als auch die nur unzureichend versteckten Überreste
der ältlichen Schwester des Schriftstellers entdecken. Deshalb wird der
Schriftsteller auch erst im Gefängnis Gelegenheit finden, sein Debütwerk
zu vollenden, was ihm aufgrund seines ausgefeilten Zehnfingersystems, der Nutzung
einer elektronischen Schreibmaschine und dem hingebungsvollen Korrekturlesen
seiner Geliebten in relativ kurzer Zeit (noch vor Prozeßbeginn) gelingt.
Das Buch wird kurioserweise am gleichen Tage veröffentlicht werden, an
dem das Todesurteil verkündet wird und sich innerhalb weniger Wochen an
die Spitze der Bestsellerliste setzen. Während der Schriftsteller in der
Todeszelle auf den Bescheid auf sein Gnadengesuch wartet, wird er für den
Literaturnobelpreis nominiert werden. Nachdem das Gnadengesuch in letzter Instanz
abgelehnt wurde, wird die Geliebte des Schriftstellers just in dem Moment stellvertretend
für ihn den Nobelpreis entgegennehmen, in dem ihm sein letzter Wunsch -
eine Flasche 25 Jahre alten Scotch-Whiskys - erfüllt werden wird. Der Schriftsteller
wird für den Rest seines Lebens nicht mehr nüchtern und seine Geliebte
das Preisgeld einer Stiftung zur Förderung schöngeistiger Literatur
zur Verfügung stellen. Die Mittel weiden durch einen bedauerlichen Irrtum
zur Gründung eines Verlagshauses verwendet werden, welches vornehmlich
Romane veröffentlicht, die mit Vorliebe von Frauenzeitschriften als Fortsetzungsgeschichten
abgedruckt werden. Hoffnungsvolle Jungschriftsteller werden sich im Dienste
dieses Verlagshauses so lange selbst kopieren, bis sie eine poetische Pause
einlegen müssen...
Wenn Schriftsteller eine poetische Pause einlegen, kann das dramatische Folgen
haben. Es kann zum Beispiel unter Umständen dazu führen, daß
zahllose Literaturnobelpreisträger betrunken in Todeszellen auf die Vollstreckung
der Höchststrafe warten. Sämtliche Verlagshäuser werden sich
dann auf die Produktion von Fortsetzungsromanen für Frauenjournale spezialisieren
und gute Literatur wird damit systematisch ausgerottet werden! Deshalb müssen
junge Schriftsteller mit allen Mitteln davor bewahrt werden, in Schaffenskrisen
zu stürzen und daraufhin poetische Pause einzulegen. Trinkt vor allem keinen
Pfefferminztee mehr, denn Tee ist gefährlich und führt zu Entstehung
schlechter Geschichten wie dieser hier...