SCHRIFTSTELLER MACHT EINE POETISCHE PAUSE
oder
EINE SCHAFFENSKRISE UND WAS DARAUS WERDEN KANN


Wenn ein Schriftsteller eine poetische Pause einlegt, kann er einfach müde sein oder ihm tun die Finger weh, weil er zu lange Schreibmaschine geschrieben hat. Er kann auch Rückenschmerzen haben, weil die sitzende Haltung hinter seinem Schreibtisch nicht unbedingt die gesündeste ist, die ein Mensch einnehmen kann. Es kann aber auch sein, daß sich dieser bedauernswerte Schriftsteller in einer Schaffenskrise befindet, und das kann dramatische Folgen haben.
Wenn ein Schriftsteller eine poetische Pause macht, schiebt er die Schreibmaschine von sich und blickt versonnen durch das Fenster seines Arbeitszimmers auf einen Berliner Hinterhof, in den nur wenig Tageslicht dringt. Stattdessen könnte er genau so gut auch auf eine westdeutsche Kleingartenanlage schauen, auf ostdeutsche Industrieruinen oder x-beliebige Wohnsilos, wie es sie überall zu finden gibt, wo zu viele Menschen leben, die sich im Grunde egal sind. Überall würde er sich ähnlich fühlen, nämlich verdammt fehl am Platze. Der Schriftsteller blickt also aus dem Fenster auf ein reichlich deprimierendes Panorama, fühlt sich dementsprechend deplaziert und daß er möglicherweise eine Schaffenskrise hat, was ihn ziemlich unangenehm berührt. Anschließend zündet er sich vielleicht eine Zigarette an und läßt sich von seiner ältlichen, nichtsdestotrotz aber noch charmanten und für gewisse Geschmäcker sogar durchaus reizvollen Schwester leicht gesüßten Pfefferminztee servieren. Er würde zwar lieber ein Bier oder einen halbtrockenen Beaujolais zu sich nehmen. Aber so Pfefferminztee trinkend eine Zigarette zu rauchen hat auch seinen Reiz, wenn er sich auch im Moment nicht darauf besinnen kann, welchen.
Währenddessen schweifen die Blicke des Schriftstellers müde von überquellenden Müllcontainern, rauchenden Fahrikschloten und sterbenden Straßenbäumen in das Zimmer zurück. Dort verweilen sie bei einer vergilbten Fotografie, welche verloren an einer sonst kahlen Wand hängt. Nachdenklich betrachtet der Schriftsteller das Bild und ihm kommen wehmütige Gedanken an die Zeit, als diese Fotografie gemacht wurde. Damals hatte er gerade einen bedeutenden internationalen Literaturpreis erhalten, der nebenbei auch sehr ansehnlich dotiert war, wurde hoch geehrt und galt als großes Talent. Man nahm allgemein an, daß ihn die in Kürze zu erwartende Veröffentlichung seines ersten Romans in eine Reihe mit solchen Größen wie beispielsweise Hemingway stellen würde. Das wurde dem Schriftsteller jedenfalls so häufig versichert, daß er es am Ende selbst glaubte. Doch das ist alles schon Ewigkeiten her. Das Manuskript seines ersten Romans liegt noch immer unvollendet an einer Stelle, an die sich mittlerweile sogar der Schriftsteller selbst beim besten Willen nicht mehr erinnern kann, das Preisgeld ist längst für drittklassige Van Gogh-Fälschungen, zweitklassige Chansonnetten sowie Unmengen, allerdings erstklassigen, Scotch-Whiskys draufgegangen und wenn man ihm in letzter Zeit überhaupt etwas versicherte, dann, daß er es vermutlich nie packen würde, einen großen Wurf zu landen.
Inzwischen ist der Schriftsteller schon froh, wenn es ihm gelingt, einen seiner mittelmäßigen Essays im Feuilleton einer wenig gelesenen Tageszeitung unterzubringen oder bei Preisverleihungen die Laudatio auf erfolgreichere Kollegen zu halten. Ansonsten schreibt er vor allem Fortsetzungsgeschichten, die ihm besonders von Frauenzeitschriften reißend abgenommen werden. Das hängt allerdings weniger von seinen literarischen Qualitäten als von gewissen sehr engen Beziehungen seiner zwar ältlichen, aber eben auch irgendwie charmanten und in bestimmter Weise durchaus reizvollen Schwester zu einigen Damen und Herren aus den Chefredaktionen solcher Postillen ab. Ja, man munkelt in einigen Kreisen sogar, daß diese Beziehungen einen ziemlich eindeutigen, um nicht zu sagen anrüchigen Charakter trügen.

Unseren Schriftsteller kümmern diese Dinge allerdings wenig. Für ihn ist wichtiger, daß er sich für die zugegebenermaßen dürftigen Honorare seiner Autorentätigkeit nicht nur Zigaretten, Pfefferminztee und Schreibmaschinenpapier leisten kann, sondern ab und zu auch ein Bier oder sogar einen Schoppen halbtrockenen Beaujolais im nahegelegenen Parkrestaurant. Das ist freilich etwas armselig im Gegensatz zu jenen Zeiten, als er es sich erlauben konnte, die Kellner der vornehmsten Restaurants mit Sahnetortenstücken zu bewerten und in elitären Clubs der vortragenden Künstlerin Cognac in den Ausschnitt zu kippen. So etwas fand damals allgemeinen Beifall. Es wurde ihm ja sogar verziehen, daß er des öfteren auf Stehbanketts seine jeweiligen Gesprächspartner mit Champagner bespritzte, um so die steife Atmosphäre derartiger Anlässe zu entkrampfen. Im Gegenteil: Alle, auch die Leidtragenden seiner Eskapaden, fanden ihn und sein Benehmen ausgesprochen amüsant. Heute muß er sich damit begnügen, sein einfacheres Getränk in der Gesellschaft eines arbeitslosen Nachtclubrausschmeißers zu sich zu nehmen, welcher es vermutlich überhaupt nicht witzig fände, wenn der Schriftsteller ihm Bier oder halbtrockenen Beaujolais auf die frischrasierte Glatze gießen würde.
"Ach!", denkt dann der Schriftsteller. "Ich bin wohl in einer Schaffenskrise und es wird langsam Zeit, daß sich das wieder ändert..." Doch bis jetzt ist ihm noch nicht eingefallen, was er tun könnte, um aus seinem Dilemma herauszukommen und er geht mit sich selbst uneins nach Hause. Dort trinkt er vielleicht noch einen Pfefferminztee oder schreibt noch etwas an einer belanglosen Fortsetzungsgeschichte für ein noch belangloseres Frauenjournal, weil das monotone Geklapper der Schreibmaschine seine Nerven beruhigt und die trüben Gedanken verscheucht. Schließlich legt er sich wahrscheinlich auf sein Bett und träumt von Stockholm, von der Verleihung des Literaturnobelpreises und den Ehrungen, die der glückliche Preisträger über sich ergehen lassen muß. Dann malt er sich aus, wie viele drittklassige Van Gogh-Fälschungen er sich für das Preisgeld kaufen könnte, wie viele zweitklassige Chansonnetten er mit seiner Berühmtheit beeindrucken würde und ob er bei den Unmengen erstklassigen Scotch-Whiskys, die er dann trinken würde, bis zu seinem Tode betrunken wäre...

Wenn ein Schriftsteller eine poetische Pause macht, geht er auch gern einmal in den Stadtpark, um die Enten und die Schwäne zu beobachten und sich mit den alten Herren zu unterhalten, die dort spazieren gehen oder angeln. Wenn er sich in einer Schaffenskrise befindet, tut er das häufiger, denn der Park verändert sich im Laufe der Jahre nur wenig und das beruhigt die unangenehmen Gedanken des Schriftstellers etwas. Hier scheint die Zeit stehen geblieben zu sein und man kann noch ungestört der Illusion nachhängen, man sei jung, hoffnungsvoll und - was am wichtigsten ist - Empfänger einträglicher Tantiemen. Hier schwimmen im Herbst abgestorbene Blätter auf dem Wasser, tragen die Weidenbüsche im Frühjahr weiße Kätzchen und im Winter, wenn die kahlen Bäume mit Schnee bedeckt sind und der See vereist ist, ist es besonders still. Das ganze Jahr über werden die Enten und Schwäne mit Brotstücken gefüttert; nur manchmal necken boshafte Kinder die Tiere, indem sie ihnen stattdessen kleine Kieselsteine zuwerfen und sich köstlich über deren vergebliche Bemühungen amüsieren, die vermeintlichen Leckerbissen zu erhaschen.
Lediglich im Sommer ist der Schriftsteller manchmal leicht verwirrt, wenn bei besonders heißem Wetter barbusige junge Mädchen in den Anlagen liegen und Bücher lesen, vielleicht Dostojewski, Bukowski oder Freud - aber wer weiß schon, was so junge Dinger lesen, wenn sie spärlich bekleidet in Grünanlagen liegen und sich von der Sonne den Teint verderben lassen...
Der Schriftsteller hätte sich ja ganz gern einmal mit einer dieser jungen Damen unterhalten - freilich nicht über Dostojewski - und er hätte sicherlich auch eine von ihnen auf einen Drink zu sich eingeladen, um ihr seine Ansichten über Ozonloch und Unschärferelationen zu erklären. Aber er denkt dann immer an den schwach gesüßten Pfefferminztee seiner ältlichen Schwester, welche ihm in dem Moment weder charmant noch irgendwie reizvoll erscheint, und ist verzweifelt. Voll Ingrimm wünscht er sich dann immer eine Schrotflinte, um unter dem Wassergeflügel ein Massaker anzurichten und irgendwann einmal, möglicherweise an einem lauen Sommerabend nach blutroten Sonnenuntergang oder an einem trüben Herbstmorgen, wird er vielleicht am Ufer stehen und folgenden Monolog halten: "Ich bin wohl in einer Schaffenskrise und es wird langsam Zeit, daß sich das ändert. Sicherlich könnte ich den langweiligen Fortsetzungsroman weiter schreiben., an dem ich schon seit Jahren sitze und ich bin überzeugt, daß sich das Geklapper der Schreibmaschine gut anhören würde, denn in letzter Zeit hat sich meine Technik sehr verbessert. Aber ich bin es leid, dieselbe miese Story an anderen Orten mit anderen Personen ablaufen zu lassen, während mein unvollendeter Erstlingsroman an einem Ort, den ich nicht kenne, verstaubt. Ich bin es leid, für dieses Selbstplagiat so miserable Honorare zu beziehen, daß ich mir nicht mal eine Haushälterin geschweige denn eine Geliebte leisten kann. Statt dessen muß ich meine ältliche Schwester, die mir wahrscheinlich das Manuskript zu meinem möglicherweise genialen Romanerstling verschlampt hat - am Ende gar böswillig und mit Absicht - weiter in meinem Hause dulden, ihren ekelhaften Pfefferminztee trinken und ihr sogar noch dafür dankbar sein. Kann man so weiterleben? Nein, einmal muß Schluß sein!"
Danach wird er nach Hause eilen und sich über seinem Schreibtisch aufhängen. Dabei wird der Strick reißen und der Schriftsteller wird auf seine Schreibmaschine stürzen, welche daraufhin zu Bruch gehen wird. Der Schriftsteller wird sich deshalb total lebensuntüchtig vorkommen. Nicht nur daß er seinen Romanerstling nicht zu Ende geschrieben hat, nein nicht einmal ein simpler Selbstmord gelingt ihm ! Wenn sich dann die Tür öffnet und eine weibliche Stimme fragt, ob er noch einen Pfefferminztee möchte, wird er mit dämonischem Lachen seine ältliche und in dem Moment furchtbar erschrockene Schwester packen und erwürgen. Er wird dann hocherfreut feststellen, daß es ihm gelungen ist, eine begonnene Handlung zu einem Ende zu führen und sich überglücklich auf die Suche nach einem dieser Mädchen machen, welche an heißen Sommertagen barbusig in Grünanlagen Dostojewski zu lesen pflegen. Er wird Glück haben und ein solches Mädchen in einem Nachtcafé, bei einem Rockkonzert oder einem Straßenkrawall kennen lernen und es wird ihm sogar glücken, sie trotz seines angejahrten Charmes und seiner altmodischen Redensarten aus der Zeit der 68er Studentenunruhen zu sich einzuladen. Dort wird sie durch Zufall sowohl das verschollene Manuskript des unvollendeten Romanerstlings als auch die nur unzureichend versteckten Überreste der ältlichen Schwester des Schriftstellers entdecken. Deshalb wird der Schriftsteller auch erst im Gefängnis Gelegenheit finden, sein Debütwerk zu vollenden, was ihm aufgrund seines ausgefeilten Zehnfingersystems, der Nutzung einer elektronischen Schreibmaschine und dem hingebungsvollen Korrekturlesen seiner Geliebten in relativ kurzer Zeit (noch vor Prozeßbeginn) gelingt.
Das Buch wird kurioserweise am gleichen Tage veröffentlicht werden, an dem das Todesurteil verkündet wird und sich innerhalb weniger Wochen an die Spitze der Bestsellerliste setzen. Während der Schriftsteller in der Todeszelle auf den Bescheid auf sein Gnadengesuch wartet, wird er für den Literaturnobelpreis nominiert werden. Nachdem das Gnadengesuch in letzter Instanz abgelehnt wurde, wird die Geliebte des Schriftstellers just in dem Moment stellvertretend für ihn den Nobelpreis entgegennehmen, in dem ihm sein letzter Wunsch - eine Flasche 25 Jahre alten Scotch-Whiskys - erfüllt werden wird. Der Schriftsteller wird für den Rest seines Lebens nicht mehr nüchtern und seine Geliebte das Preisgeld einer Stiftung zur Förderung schöngeistiger Literatur zur Verfügung stellen. Die Mittel weiden durch einen bedauerlichen Irrtum zur Gründung eines Verlagshauses verwendet werden, welches vornehmlich Romane veröffentlicht, die mit Vorliebe von Frauenzeitschriften als Fortsetzungsgeschichten abgedruckt werden. Hoffnungsvolle Jungschriftsteller werden sich im Dienste dieses Verlagshauses so lange selbst kopieren, bis sie eine poetische Pause einlegen müssen...
Wenn Schriftsteller eine poetische Pause einlegen, kann das dramatische Folgen haben. Es kann zum Beispiel unter Umständen dazu führen, daß zahllose Literaturnobelpreisträger betrunken in Todeszellen auf die Vollstreckung der Höchststrafe warten. Sämtliche Verlagshäuser werden sich dann auf die Produktion von Fortsetzungsromanen für Frauenjournale spezialisieren und gute Literatur wird damit systematisch ausgerottet werden! Deshalb müssen junge Schriftsteller mit allen Mitteln davor bewahrt werden, in Schaffenskrisen zu stürzen und daraufhin poetische Pause einzulegen. Trinkt vor allem keinen Pfefferminztee mehr, denn Tee ist gefährlich und führt zu Entstehung schlechter Geschichten wie dieser hier...

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