Früher war ich jung und soviel besser orientiert...
Das ist auch nicht so schwer, so mit 18-19: Ein Feindbild ist ein Feindbild,
der Nachbar gut oder böse, die Liebe für’s Leben. Schwarz ist
noch schwarz und weiß ist weiß...
...und Ficken hat noch überhaupt nichts mit Biochemie zu tun.
Mit über Dreißig haben sich schwarz und weiß hingegen hinreichend zu grau vermischt, daß das mit der Orientierung so ein Ding ist. Der Nachbar ist gut, wenn er dir beim Umzug hilft und auf deine Katze aufpaßt, böse wenn ihn deine Parties nachts um drei annerven und dir ansonsten eigentlich scheißegal. Feindbilder hast du schon so viele verschiedene gehabt, daß du mittlerweile bei als aufgeklärter Toleranz getarntem Desinteresse angelangt bist, gemischt mit Ironie, Sarkasmus und zynischen Endzeitneurosen. Du weißt, was du wissen mußt, und noch mehr, was du nie erfahren wolltest.
...zum Beispiel, daß Ficken verdammt viel mit Biochemie zu tun hat.
Eine erste leise Ahnung kam dir, als du bei deiner ersten Angehimmelten mit
Gedichtvorlesen nicht so recht landen konntest und sie statt dessen mit der
Hackfresse abzog, die ihr beim Engtanzen im Schritt rumgefingert hatte. Heute
hat sie zwei Kinder, nen Scheißjob und Orangenhaut und du versuchst dir
erfolglos einzureden, daß du glücklich darüber bist, daß
es damals mit euch beiden nicht geklappt hat.
Später stelltest du dann fest, daß einen Finger in eine Scheide stecken
noch lange keinen Pfeil in ein Herz bohren muß und wahre Nähe wollte
sich so auch nicht einstellen. Du wurdest vorsichtig. Bloß nichts in den
inneren Kreis reinlassen, niemals zuviel Nähe gestatten, Gefühle zeigen
ist ein Zeichen der Schwäche – bis sich dann die Biochemie das erste
Mal von ihrer häßlichen Seite zeigte...
Aber das Leben besteht nicht nur aus One-Night-Stands oder Beziehungskisten! Das ist auch gut so, es wäre sonst zu vernagelt. Stellt sich nur die Frage, warum dich eine verlorene Liebe mehr ankotzt als ein verlorener Job, warum auf der Wiese des Lebens neben Blumen auch viel zu viele Maulwurfshügel sein müssen, warum du häufig einen Maulwurfshügel statt einer Blume wählst oder dir sogar einredest, dein Maulwurfshügel sei eine Blume...
Das Dilemma heißt wahrscheinlich Hoffnung.
Hoffnung, daß du vielleicht doch noch das bekommst, was du irgendwann verloren hast oder auch nie kriegen konntest...
Früher hätte ich auf alle diese Fragen vielleicht eine Antwort gewußt.
Da hing der Himmel noch voller Geigen oder das Dasein war einfach die Hölle
auf Erden. Ich habe noch bedingungslos gehaßt und bedingungslos geliebt.
Jetzt ist da statt dessen graue Eintönigkeit, in der die Orientierung schwerfällt
und die Hölle, in der ich lebe, ist halt meine. Maulwurfshügel sind
eben keine Blumen...