junge Welt vom 18.11.2004
 
Kommentar

Fortuyn – größter Niederländer

Die Zivilisationskrise

Werner Pirker
 
Zu Konrad Adenauer, dem größten Deutschen, gesellt sich mit Pim Fortuyn der größte Niederländer aller Zeiten. Diese höchst eigenwillige Wahl traf das niederländische Fernsehpublikum. Selbst der Stammvater des Könighauses, Willem von Oranje, mußte dem vor zwei Jahren ermordeten xenophoben Populisten den Vortritt lassen. Hollands große Meister der Malkunst landeten im geschlagenen Feld. Die Geschichtsvergessenheit nimmt skandalöse Züge an. Eine Nation, die sich mehr als andere als »kultivierte Nation« wähnte, verkümmert geistig und mental, klammert sich an die primitivsten Formen ihres Seins: Holland den Holländern!

Das entspricht so gar nicht der bisher gekannten Performance dieses Landes als weltoffen, liberal, tolerant und – im kapitalistischen Sinn – fortschrittlich. Doch ausgerechnet in einem der liberalen Kernländer offenbart sich nun die Krise des Liberalismus in seiner ganzen Schärfe. Das Prinzip des »Leben und leben lassen« wird zunehmend vom »Kampf der Kulturen« verdrängt. Zwischen der »Stammnation« und Generationen von Zuwanderern ist ein barbarischer Konflikt ausgebrochen. Er verkleistert – wie überall – die wirklichen gesellschaftlichen Bruchlinien. Die ergeben sich aus dem in den liberalen Niederlanden mit avantgardistischem Anspruch durchgeführten neoliberalen Umbau. Statt solidarischer Gegenwehr kam an der Basis das sozialdarwinistische Verdrängungsgesetz zur Geltung. Das war – bevor ihm die Stunde schlug – die Stunde des Demagogen Pim Fortuyn. Er verkörperte einen Rechtspopulismus, der dem herrschenden liberalen Geist keineswegs widersprach. Als politisch korrekter Rassist stand Fortuyn für die »holländischen Werte« und deren Verteidigung gegen die »expansionistische Kultur« des Islamismus. Dieser Sache fühlte sich auch der Filmregisseur Theo van Gogh verpflichtet. Nach seiner Ermordung durch einen islamischen Eiferer brannten in Holland Moscheen.

Was immer die Motive des Attentäters gewesen sein mögen: Mit seiner Mordtat hat er eine Welle rassistischer Gewalt ausgelöst. In niederländischen Städten wird die globale Zivilisationskrise deutlich, die sich aus der imperialistischen Beherrschung der Welt ergeben hat. Der internationale Bürgerkrieg zwischen Reich und Arm findet seine Ausläufer in den Metropolen. Das ist keine erfreuliche Perspektive. Denn in solchen Konflikten liegt die Negation der internationalen Klassensolidarität. Sie sind deshalb ein Teil des neoliberalen Krisenmanagements. Das könnte allerdings schon bald außer Kontrolle geraten.

 

Adresse: http://www.jungewelt.de/2004/11-18/002.php

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